en

Geschichte der Flüssigkristallforschung in Deutschland

Flüssigkristalle sind einzigartige, teilweise geordnete Materialien, die die Eigenschaften von Flüssigkeiten mit der Anisotropie fester Stoffe verbinden. Die Entwicklung dieser Materialien hatte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und zu Beginn des 21. Jahrhunderts tiefgreifende Auswirkungen auf Technologie und Gesellschaft. Heute ist es schwer, sich Lebensbereiche vorzustellen, in denen Flüssigkristalle keine Rolle spielen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war jedoch allein die Existenz dieses Materiezustands umstritten und führte zu intensiven wissenschaftlichen Diskussionen. Erst durch weltweite interdisziplinäre Forschung gelang es, die Flüssigkristalle – oder „kristalline Flüssigkeiten“ – als eigenständigen Zustand zu etablieren und den Weg für zahlreiche Anwendungen zu ebnen [1].

LC_phases

In den frühen Jahren leisteten deutsche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wegweisende Beiträge. 1888 beobachtete Friedrich Reinitzer (Deutsche Universität Prag) beim Cholesterylbenzoat ein „doppeltes Schmelzen“ [2,3]: Zunächst entstand bei 145,5 °C eine trübe Flüssigkeit, die sich bei 178,9 °C zu einer klaren Flüssigkeit wandelte – begleitet von intensiven Farbspielen.

Otto Lehmann (Technische Hochschule Karlsruhe) entwickelte 1889 eine Polarisationsmikroskopie mit Heiztisch, die noch heute zentral in Flüssigkristall-Laboren eingesetzt wird. Er konnte zeigen, dass die von Reinitzer beobachtete trübe Phase zugleich kristalline Eigenschaften besitzt und fließt.

Das erste synthetische Flüssigkristall, para-Azoxyanisol (PAA), wurde in Heidelberg von Ludwig Gattermann hergestellt, der auch den Begriff Schlieren-Struktur prägte. Um 1900 entwickelte sich die Chemie und Physikalische Chemie der Flüssigkristalle in Deutschland zu einem florierenden Forschungsgebiet. In Halle gründete Daniel Vorländer eine Arbeitsgruppe, die mit seinen Schülern F. Meyer und K. Dahlem neue Flüssigkristall-Klassen synthetisierte [4]. Seine Sammlungen sind bis heute von Bedeutung.

Neben der Chemie prägte Deutschland auch die Theorie: Wilhelm Maier und Alfred Saupe (Halle) entwickelten die erfolgreiche Maier-Saupe-Theorie des nematisch-isotropen Übergangs [7–9]. 1970 erarbeitete Wolfgang Helfrich das Konzept der TN-Zelle, das gemeinsam mit Martin Schadt [10] die LCD-Technologie revolutionierte.

LCD_basics

Heute ist die Flüssigkristallforschung ein dynamisches Feld. Die industrielle Herstellung begann bei Merck (Darmstadt), heute einer der weltweit führenden Produzenten. Deutsche Forschung deckt ein breites Spektrum ab – von Synthese und Struktur neuer Materialien bis hin zu Anwendungen in Optik, Photonik, Sensorik, Telekommunikation und Medizin.

Die Wurzeln der Deutschen Flüssigkristall-Gesellschaft (DFKG) reichen bis 1971 zurück, als die erste Freiburger Arbeitstagung Flüssigkristalle stattfand. Diese Reihe, initiiert von Gerhard Meier und Günter Baur, versammelte zunächst rund 30 Teilnehmende, entwickelte sich aber zu einer international anerkannten Konferenzreihe. Später organisierten u. a. Heino Finkelmann, Gerd Kothe und Gert Strobl die Tagungen.

1996 wurde die Gesellschaft offiziell gegründet: Horst Stegemeyer beantragte bei der Deutschen Bunsengesellschaft für Physikalische Chemie (DBG) die Einrichtung einer Arbeitsgemeinschaft Flüssigkristalle. Am 28. Juli 1996 beschloss der DBG-Vorstand die Gründung, und 1998 erfolgte die Umbenennung in Deutsche Flüssigkristall-Gesellschaft (DFKG).

Bemerkungen und Literatur

[1] Die frühe Geschichte der Flüssigkristalle ist hervorragend dargestellt in dem Buch “Crystals That Flow: Classic Papers from the History of Liquid Crystals” von Timothy J. Sluckin, David A. Dunmur und Horst Stegemeyer, CRC Press, Boca Raton, 2004.

[2] Die Universität Karlsruhe beherbergt eine Dauerausstellung zur Geschichte der Flüssigkristalle mit dem Titel “From the carrot to flat panel displays”. Die Ausstellung wurde von Horst Stegemeyer und Ludwig Pohl zusammengestellt.

[3] Das Gebäude, in dem Reinitzer Ende des 19. Jahrhunderts seine Forschungen durchführte, befindet sich in der Husova-Straße Nr. 5. Vgl. L. Lejček, M. Glogarová und E. Těšínská: “Commemorative plaque of Prof. Friedrich Reinitzer installed in Prague”, Liquid Crystals Today 26 (3), 66–68 (2017).

[4] In Anerkennung der Pionierarbeiten von Daniel Vorländer lädt die DFKG herausragende Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler ein, auf der jährlichen Deutschen Flüssigkristalltagung die Vorländer Lecture zu halten.

[5] Zur Übersicht siehe z. B. H. Sackmann: “Smectic liquid crystals. A historical review”, Liquid Crystals 5 (1), 43–55 (1989).

[6] H. Kelker und B. Scheurle: „A Liquid-crystalline (Nematic) Phase with a Particularly Low Solidification Point“, Angew. Chem. Int. Ed. 81, 884–885 (1969).

[7] W. Maier und A. Saupe: „Eine einfache molekulare Theorie des nematischen Kristalls im flüssigen Zustand“, Z. Naturforsch. 13a, 564–570 (1959).

[8] Zur Übersicht siehe z. B. G. R. Luckhurst und C. Zannoni: “Why is the Maier–Saupe theory of nematic liquid crystals so successful?”, Nature 267, 412–414 (1977).

[9] In Anerkennung der Pionierarbeiten von Alfred Saupe vergeben die Alfred-Saupe-Stiftung und die DFKG den Alfred-Saupe-Preis an herausragende Flüssigkristallforschende.

[10] M. Schadt und W. Helfrich: “Voltage-dependent optical activity of a twisted nematic liquid crystal”, Appl. Phys. Lett. 18, 127–128 (1971).

 

Letzte Änderung: 02.09.2025 -
Ansprechpartner: